Titel
Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich


Autor(en)
Stoff, Heiko
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
555 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Dietrich, Fachbereich III, Universität Trier

Seit die Bild-Zeitung im Sommerloch 2001 die Frage aufwarf, „wollen wir wirklich 120 Jahre werden?“ (S. 507, Anm. 1604), und damit auf neue Resultate der Genforschung aufmerksam machte, haben Kultur- und Gesellschaftswissenschaftler eine Studie wie die des Hamburger Historikers Heiko Stoff erwartet. Er betritt ein Forschungsfeld der Wissenschafts- und Diskursgeschichte, welches als Körper-Geschichte seit den 1980er-Jahren in Deutschland etabliert worden ist. Inhaltlich und chronologisch ist das Buch anschlussfähig an diese recht junge Bindestrich-Disziplin. Ähnlich wie Philipp Sarasins Untersuchung des Maschinenkörpers im 19. Jahrhundert 1 steht auch Heiko Stoffs Studie in der analytischen Tradition Michel Foucaults. Weitaus mehr als der Schweizer Historiker untersucht der Hamburger Geschichtswissenschaftler jedoch Diskurse, die Nichtexperten nur mit Unterstützung des klinischen Wörterbuchs „Pschyrembel“ 2 verstehen können. Worum geht es?

Sein Arbeitsziel ist, so teilt Stoff programmatisch bereits auf der elften von 555 Seiten mit, Deutungen, Umdeutungen und Relevanzen von Verjüngungsvorstellungen während der „langen Jahrhundertwende“ - gemeint ist wohl der Zeitraum 1889 bis 1936 - zu untersuchen. Eine klare Zielvorstellung, die in zwei Thesen konkretisiert wird. Durch Verjüngung sollten die nervösen Maschinenkörper des späten 19. Jahrhunderts in leistungsstarke „Hormonkörper“ umgewandelt werden (S. 14). Diese Umdeutung von Körperleitvorstellungen und ihre Erreichbarkeit fand im Rahmen einer Diskursverlagerung statt. Stoff beschreibt diese analog zur generativen bzw. vegetativen Funktion der Hodenzwischenzellen im Sinne des 2003 früh verstorbenen Lawrence Birken 3: Von der Nachkommenproduktion zur Befriedigung geschlechtlicher Identitäten und Bedürfnisse (S. 16, 54, 80). Seine Vermutungen untersucht Stoff im Zusammenhang der miteinander konkurrierenden Debatten um eine „künstliche“ bzw. „natürliche“ Verjüngung.

Im ersten, dem zweifelsohne gelungensten Hauptteil (S. 24-175) wendet sich die Dissertation der „künstlichen“ Verjüngung zu. Ihr als wissenschaftlich redlich dargestellter Protagonist ist Eugen Steinach, dessen dilettierender und populistischer Antagonist Serge Voronoff (S. 43-55). Steinachs Verdienst ist zunächst, dass er die vegetative Funktion der von ihm Pubertätsdrüse genannten Hodenzwischenzellen für die menschliche Geschlechtlichkeit erkennt (S. 37). Weitaus populärer ist seine Auffassung, dass durch entsprechende Behandlung der Pubertätsdrüse eine nachhaltige Verjüngung der Patienten möglich sei. Den Praktikern bietet Steinach ein ganzes Arsenal an operativen und nicht-operativen Techniken an (S. 130-144), um „ewige Jugend“ zu erzeugen.

Den Theoretikern des in den 1920er-Jahren filmisch, journalistisch und belletristisch popularisierten Verjüngungsdiskurses eröffnete das „Steinachen“ (S. 30f.) eine Vielfalt kultureller, biopolitischer und eugenischer Themen. Debattiert wurde etwa die Aussicht auf „eine Revitalisierung eines durch Krieg, Wirtschaftskrise und Frauenbewegung kastrierten Mannes“ (S. 94). Zwar ebbten die Verjüngungsdiskussionen mit dem Abklingen der „Jugendmythifizierung“ (S. 234-245) und „Girlisierung“ (S. 297) zu Beginn der 1930er-Jahre ab, doch schon im Jahrzehnt zuvor hatte Steinachs Konzept der „künstlichen“ Verjüngung die nachhaltige öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die gerade erst entdeckten Hormone geweckt. Vorbotenstoff dieser Debattenverlagerung war das Insulin (S. 409). Dessen Entdeckung 1921 folgten unter anderem umfassende Sexualhormonforschungen, die den an „ewiger Jugend“ Interessierten in Aussicht stellten, eine echte Verwandelbarkeit statt nur eine Veränderung des „alten“ Körpers erreichen zu können (S. 405).

Stoff befasst sich im vierten Hauptteil seiner Arbeit (S. 376-502) mit den Sexualhormonen. Zwar zwingen fehlende Überleitungen zwischen den Teilkapiteln den Leser zum konstruktiven Mitdenken (etwa S. 425), doch inhaltlich wird klar, welche teils diskriminierenden biopolitischen Folgen die Hormondebatten für die Körper- und Verjüngungsdiskussion besaßen. Die Diskursteilnehmer konnten jetzt 43.046.721 Sexualtypen unterscheiden (S. 448), Homosexualität für heilbar halten (S. 453-469) und Sterilisation wie Antikonzeption für eugenisch notwendig erachten (S. 469-481). Stoff macht klar, dass in den 1920er-Jahren biochemische Innovation, erbbiologische Konzeption und „Verjüngungsrummel“ (S. 481) miteinander einhergingen.

Doch nicht nur die „künstliche“ Seite dieses Rummels ist interessant, sondern ebenso ihr „Feind“, die „natürliche“ Verjüngung (S. 269-375). Deren Vertreter, etwa Heinrich Pudor, waren völkisch-antisemitisch, rassenhygienisch und nationalistisch geprägt (S. 269, 275, 302). Ihrer Auffassung nach bot „die diszipliniert und ausdauernd durchgeführte Praxis von Luft-, Wasser- und Sonnenbädern die einzig wahre Verjüngung“ (S. 271). Stoff stellt diese Zusammenhänge zu ausführlich auf über 100 Seiten dar. Zudem kontrastiert er die „natürliche“ Verjüngung nur indirekt und mit einer Unterbrechung von 92 Seiten mit den „künstlichen“ Verjüngungsvorstellungen.

Der eingeschobene, zu ausführlich geratene zweite Hauptteil (S. 176-268) trägt dazu bei, den Aufbau der Studie als ihren Hauptkritikpunkt zu erkennen. In Abschnitt zwei steckt Stoff den größeren thematischen Rahmen von Leben, Tod und Jugend der langen Jahrhundertwende ab, ohne sich auf die Querbezüge zum ersten und dritten Hauptteil zu konzentrieren. Alternativ würde ein einleitender, knapper Literaturbericht über die zeitgenössische wie geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis der Generationen den Leser hinreichend über notwendiges Kontextwissen informieren. Eine solche kompakte Darstellung setzt voraus, den Forschungsstand hervorragend zu kennen: Das ist bei Stoff der Fall.

Bilanzierend müssen Stoffs profunde Kenntnisse für und gegen ihn gewertet werden. Positiv ist zu gewichten, dass er sich ein komplexes und fachspezifisches Expertenwissen angeeignet und gedeutet hat. Negativ ist, dass er die habituelle Verhaltensweise der Produzenten dieses Knowhows übernimmt, da er sich phasenweise unverständlich und kompliziert ausdrückt (etwa S. 478). „Gut lesbar“, wie der Klappentext ankündigt, ist die Studie nicht. Der Aufbau des Buchs überzeugt wenig, die innere Struktur der Gliederung erschließt sich dem Leser nur marginal (S. 26).

Dies schmälert jedoch Stoffs inhaltliche Leistung kaum. „Wissenschaftlich fundiert“ ist die Darstellung des „Stoffkörpers“ mit Sicherheit. Pionierhaft demonstriert das Buch, welche hohen Aufschlüsse Historiker erzielen können, wenn sie sich in Debatten aus akademischen Disziplinen eindenken, die der Geschichtswissenschaft fern stehen. Dass man dafür begleitend den Pschyrembel studieren muss, verspricht dann nur zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

Anmerkungen:
1 Sarasin, Philipp, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001.
2 Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch nach Willibald Pschyrembel. 259. Auflage, Berlin 2002.
3 Birken, Lawrence, Consuming Desire. Sexual Science and the Emergence of a Culture of Abundance 1871-1914, Ithaca 1988.